medien

 

 


THEATERstrukturen erneuern!

Was Frank Alva Buecheler darüber zu sagen und welche konkreten Vorschläge zu machen hat ist verschiedenen Essays und Beiträgen für www.novo-argumente.com zu entnehmen.

GEFÜHL, WITZ, TURBULENZ

In Westsachsen lockt der Broadway: Am Theater Plauen-Zwickau hatte das Musical SWEET CHARITY Premiere – mit Herzblut inszeniert und mit vielen Bravos gefeiert

Die Band wendet dem Publikum den Rücken zu. Drei Videowände flimmern, was das Zeug hält. Man ist auf alles gefasst. Doch als es dann richtig losgeht, zieht binnen kurzer Zeit Ruhe und Frieden ein. Die Musik schwenkt öfter um, die Videos werden sparsam eingesetzt, beherrschen keineswegs die Szene. SWEET CHARITY … hat am Theater Plauen-Zwickau alles, was das Herz begehrt: Gefühl, Witz, Turbulenz.

Es wird so zum einen ein illustrer Ausflug in die vergleichsweise heile Welt der 1960er-Jahre (nicht zuletzt dank der Freude machenden Kostüme von Hannelore Nennecke), zum anderen eine zeitlose Geschichte, zu deren Quellen letztlich sogar die deutsche Romantik zu zählen ist. Nicht umsonst legt Regisseur Frank Alva Buecheler einem der Helden das von Robert Schumann vertonte Heine-Gedicht Wenn ich in deine Augen seh’ in den Mund.

Die Hauptfigur des 1966 uraufgeführten Stücks aber heißt Charity Hope Valentine. Ihre Namen sind Programm: Barmherzigkeit, Hoffnung, Liebe. Dass ausgerechnet ein New Yorker Animiermädchen diese Werte verkörpert und ihnen über alle Höhen und Tiefen der Handlung hinweg treu bleibt, macht zu großen Teilen den Reiz der Vorlage aus.

Mit Sandrine Guiraud ist die Rolle hervorragend besetzt. Guiraud weiß hinreißend zu swingen, hat Stimme und Temperament, vermag vor allem aber das Herzensgute und Naive der Figur glaubhaft zu verkörpern. Thomas Christ, der die drei Partner der Charity spielt, ist mit allen Musical-Wassern gewaschen und bringt selbst dann noch eine tüchtige Prise Show ins Geschehen, wenn er den verklemmten Oscar zu geben hat.

Frank Alva Buecheler nutzt darüber hinaus einfallsreich die Möglichkeiten eines Stadttheaters, das noch alles hat. Ihm gelingt es, die einzelnen Sparten zu einer Gemeinschaftsleistung zusammenzuführen, die einem zeitweise den Atem stocken lässt. Das Gezeigte mag in diesem und jenem Punkt nicht unbedingt Broadway-Qualitäten erreichen, muss es vielleicht auch nicht. In jedem Fall werden das hektische Leben der Großstadt, die Sehnsüchte der kleinen Leute, Sein und Schein, Abgründe und Verheißungen der modernen Welt auf packende Weise lebendig. Vor den wandlungsfähigen, immer für eine Überraschung guten Bühnenbildern von Robert Pflanz agieren Chor und Ballett mit Herzblut, erfüllen mit sichtlicher Freude auch manch ungewohnte Aufgabe, geben so jedem der Randpersonen – es mö-gen an die hundert sein – ein Gesicht.

… Kapellmeister Tobias Engeli ist ein sicherer, wohltuend locker zur Sache gehender musikalischer Leiter. Die unter ihm musizierende, durch einige Spezialisten verstärkte Orchesterauswahl entfacht nach einer kurzen Aufwärmphase einen famosen Big-Band-Sound. Die Premiere wurde mit grossem Beifall und vielen Bravos bedacht.

Freie Presse Sachsen, 21.04.2011

INTENSIVES SPIEGELBILD SEINER ZEIT

Fränkisches Theater Massbach spielt Strindberg-Drama FRÄULEIN JULIE

Der Schwede August Strindberg war immer ein unbequemer Autor, nicht nur in seinem Umgang mit dem persönlichen Umfeld. In seinen frühen Schriften äußerte er derart vehemente und realistische Kritik an den Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen seines Heimatlandes, dass ihn die ebenso heftige Kritik der Getroffenen 1883 zwang, das Land zu verlassen, um sich erst in Frankreich und dann in der Schweiz niederzulassen. Dort entstand 1888 sein Drama „Fräulein Julie“, das dazu beitrug, dass Strindberg als Frauenfeind bekannt wurde.

In der Tat kommt die Grafentochter Julie nicht gut weg bei ihm. Das wird vielleicht nicht verständlich, aber begreifbar vor Strindbergs autobiografischen Untergrund. Denn er stand kurz vor der Scheidung von seiner ersten Frau Siri, um später noch zwei weitere Eheversuche zu starten, die beide nach kurzer Zeit scheiterten. Kann sein, dass er da seine eigene Mohrenwäsche betreiben wollte.

Allerdings ist der Stoff jenseits aller Strindbergschen Befindlichkeiten ein gesellschaftlicher Spiegel seiner Zeit: In der Mittsommernacht – der Graf und Hausherr ist abwesend – verliert seine Tochter, das Fräulein Julie, ihre gesellschaftliche Contenance und tanzt mit dem Personal. Und nicht nur das: Sie taucht plötzlich in der Küche im Keller des Schlosses auf und beginnt mit Jean, dem Diener zu flirten, mit ihm und seiner Position des Untergebenen zu spielen, misstrauisch beäugt von Kristin, der Köchin und offiziellen Verlobten Jeans. Bei vielen Autoren wer das der Stoff für eine Komödie: Nach vielen Verwechslungen und Irritationen und Überwindung aller gesellschaftlichen Schranken heiratet Aschenputtler schließlich die Prinzessin und sie werben glücklich bis an das Ende ihrer Tage.

Strindberg ist brutal

Aber Strindberg ist brutal. Bei ihm gibt es kein Aufweichen der Klassenschranken. Die Rollen lassen sich nicht auflösen oder vertauschen. Bei ihm mündet das Spiel „Herrin wird Dienerin und Diener wird Herr“ in der Katastrophe. Vielen Inszenierungen genügt dieser Mechanismus. Und wenn Julie am erschöpften Ende sagt: „Ich muss die Folgen tragen“, dann sieht man in logischer Konsequenz schon den Revolver auf dem Schminktisch liegen.

Unerwartet deutlich

Aber für die Massbacher hat Frank Alva Buecheler das Stück inszeniert, und der gibt sich damit nicht zufrieden. Zusammen mit seinem Team hat er das Drama mit einem Skalpell seziert und die wesentlichen Dinge in unerwarteter Deutlichkeit heraus-geschält. Für ihn gibt es keine Linearität in der Entwicklung der Personen. Für ihn ist die ausgelassene Leichtigkeit der Mitt- sommernacht der Auslöser der Affäre von Julie und Jean, aber nicht die Ursache. In Buechelers Deutung hat sie keine Sponta-neität, sondern beginnt wesentlich früher. Bei ihm ist Fräulein Julie keine Brecht’sche Eva, die mit Eifer und Begeisterung das Armsein und Dienen lernen will, um den Knecht Matti heiraten zu können, sondern sie ist eher in die Nähe einer fanatischen Salome gerückt. Als Julie in den Keller hinuntersteigt, hat ihr perfides Spiel um den Kopf des Jean längst begonnen. Sie ent- puppt sich als eine hysterische, despressive, rücksichtslose, verzogene Tochter des Hauses, der der Mensch Jean vollkommen gleichgültig ist, die mit dem Diener ihr Spielchen treiben will, die in betrachtet wie die Katze eine Maus, die aber auch aus sich selbst heraustritt und über sich selbst erschrickt, weil sie immer wieder erkennt, dass sie der Situation und den Konsequenzen ihres Verhaltens nicht gewachsen ist.

Ausgefeilte Regie

Andererseits erzählt Jean zwar, dass er Julie als Kind heirate wollte. Aber dieses Kapitel ist für ihn abgeschlossen. Er hat gelernt, wo in diesem Haus und in dieser Gesellschaft sein Platz ist. Natürlich findet er Julies Ansinnen interessant, aber er bleibt Diener, auch wenn er den Herren spielen muss, weil es von ihm verlangt wird. Er macht mit, weil er nicht weiß, wie er Julie ohne schlimmere Folgen für ihn – und auch für sie – wieder loswerden kann.

Dazu kommt als nicht immer anwesende Beobachterin von außen die Köchin Kristin, die mit ihrer fest zementierten christlichen Moral Julie verurteilt und verabscheut, und de genau weiß, dass sie ihren Jean vielleicht verliert, aber bestimmt nicht an Julie. Mit einer ausgefeilten psychologisierenden Personenregie mit viel Gespür für die komplexen Beziehungen und mit viel Zeit für deren Entwicklung hat Buecheler eine Spannung erzeugt, in der man bei der Premiere im Zuschauerraum eine Stecknadel hätte fallen hören können.

Ideale Besetzung

Allerdings ist Silvia Steger auch eine ideale Julie. Nicht nur weil sie mit enormem Engagement die verkorkste Gutsbesitzers-tochter spielt, weil sie ihr Inneres voll nach außen kehrt, weil sie ständig changiert zwischen kühler Distan und unkontrollierten Ausbrüchen. Sondern auch, weil sie ein außergewöhnlich differenziertes Blick- und Mienenspiel hat, weil sie mit einer Bewegung mehr sagen kann als mit einem langen Monolog und weil sie mit ihren Augen ganz andere Dinge ausdrücken kann, als ihr Mund gerade erzählt. Das schafft die Verdichtung und Überlagerungen der Prozesse, die unter die Haut gehen. Philipp Eckelmann ist ihr als Diener Jean ein Partner, der seine Situation des Hin- und Hergerissenseins glänzend gestaltet, auch in seiner Körper-sprache, die Julies Avancen genießt, sich ihnen aussetzt mit der Überlegenheit des von vornherein Unterlegenen, weil er weiß, dass Julie spätestens bei der Rückkehr des Grafen de Kürzeren zieht. Und Sandra Lava spielt eine Köchin Kristin, die den Kampf der beiden meistens von außen beobachtet und sie mit tiefster, mitleidloser Überzeugung verachtet, weil sie ganz genau weiß, wie die Sache enden muss.

Dieses Von-außen-Beobachten ermöglicht des sparsam, aber höchst wirkungsvolle Bühnenbild von Anita Rask Nielsen: In einem hermetischen Keller, der durch Lichtschächte im Hintergrund angedeutet ist, hat sie weiße Trennwände mit großen Sprossenfenstern gestellt, die ein Innen und Außen schaffen, die ausgrenzen. Dabei ist die Küche völlig leer, unbehaust. Wenn sich die drei setzen wollen, müssen sie erst Hocker oder eine Tisch hinein tragen. Dazu hat Daniela Zepper wunderschöne Kostüme geschneidert, die im Kontrast eine heile Welt signalisieren, der die handelnden Personen ebenso wie das Publikum auf den Leim zu gehen Gefahr laufen.

Hohe Spannung

So fügt sich die Inszenierung zu einem enormen Spannungsfeld, das Buecheler – einmal mehr – sehr geschickt und sehr modern auflöst. Denn bei ihrem Blick auf die Konsequenzen, also in die Zukunft, schaut Julie ins 21. Jahrhundert – ähnlich wie Effi Briest in Hermine Huntgeburths Verfilmung – und man spürt, dass sie nicht bereit ist, ihr Verhalten mit ihrem Leben zu bezahlen, darin keine Notwendigkeit sieht. Zum anderen war es eine großartige Idee, die drei Akteure ganz zum Schluss noch einmal einzele Schlüsselsätze des Dramas rekapitulieren zu lassen, als würden sie aus einem Traum erwachen.

Da löste sich die Spannung, da gewannen sie Distanz. Da konnte man auch als Zuschauer wieder zu seinem Optimismus finden. Eine großartige Produktion.

Thomas Ahnert, Saale-Zeitung, 28.10.2009

Uraufführung am Opernhaus Halle

EDGAR ALLAN POE

Stehender Applaus des Publikums […] Die Weltpremiere des Musicals im halleschen Opernhaus blieb auch nach dem letzten Vorhang spannend […] Am Ende feierten sie Poe- Darsteller Björn Christian Kuhn und seine Mitstreiter für eine weitgehend gelungene Umsetzung eines nicht ganz einfachen Experiments
BILD, Jan Wätzold, 31.08.2009
Man merkt der Inszenierung an, dass Buecheler allem gerecht zu werden versucht: den Seh- und Hörgewohnheiten eines Musicalpublikums, Woolfsons Classic-Rock-Kompositionen, in denen eine Menge Alan-Parson-Flair steckt, dem Symbolismus zwischen Weiß/Gut/Leben und Schwarz/Böse/Tod, Raben und Adlern, Flügeln und Käfigen, dem Spielort Oper, dessen Chormitglieder für das musikalische Highlight sorgen.
Hannoversche Allgemeine Zeitung, Uwe Jansen, 31.08.2009
Es handelt sich zweifellos um ein Musical in der Mischung aus moderner Musik mit Gesang und Tanz. Ein Hauch von Poe-Oper weht auch, dank anspruchsvoller Chorsätze […] Ebenso stilsicher: Die Staatskapelle, die unter Volker Plangg O-Töne fabriziert. Auch der ´Rest´ stimmt: Die Choreografien von Jaroslav Staniek, umgesetzt von der fabelhaften Compagnie des Ballett Rossa, die Videoprojektionen, das detailverliebte Bühnenbild und die historischen Kostüme.
Leipziger Volkszeitung, Birgit Hendrich, 31.08.2009
Hymnen und rockige Lieder sind charakteristisch für dieses Musical. In einigen Liedern erkennt man sehr genau die musika-lische Handschrift des Schöpfers wieder. Während die Hymnen Poes Leben erzählen, spiegeln die rockigen Lieder seine düsteren Werke und seine Sinnlichkeit wider.[...] Dieses Stück ist eine Hommage an den Meister der schwarzen Romantik, gelungen, düster und beeindruckend, wie Poes Werke. Die Musical-Lounge, Christine Daaé, 01.09.2009 Die facettenreichen Auftritte von Chor, Tänzern und Solisten haben etwas von Rock-Oper, moderner Revue und rasanter Show. Mit Björn Christian Kuhn ist die Rolle des Edgar Allan Poe ideal besetzt. […] Joana- Maria Rueffer als Mutter beeindruckt mit ihren unterschied-lichen Interpretationen von ´Kleiner Stern`. […] Gerd Vogel scheint die Rolle als Poes Widersacher Rufus Griswold auf den Leib geschrieben.[…] Einige der Lieder haben ohnehin Ohrwurm-Potenzial. […] Volker M.Plangg dirigiert ein Orchester, das sich sowohl im Rockigen als auch in den Balladen gut auf die Sänger einstellt und die wenigen rein instrumentalen Passagen wohlklingend wiedergibt. […] Es ist ein außergewöhnliches Bühnenstück höchsten Anspruchs.
Magedeburger Volksstimme, Claudia Klupsch, 31.08.2009
Regisseur Frank Alva Buecheler, der “Jekyll & Hyde” nach Deutschland brachte und und dieses Stück auch 2008 in Bad Hersfeld inszenierte, verwebt das Leben Edgar Allan Poes mit seinem literarischen Schaffen und bringt diese anspruchsvolle Mischung zwischen Realität und Traum in nicht-chronologischer Reihenfolge auf die Bühne. Ohne Vorwissen über die historische Persönlichkeit wird es dem Zuschauer zu Beginn nicht leicht gemacht, der Handlung zu folgen. “Edgar Allan Poe” ist kein leichtes Musical, das man sich unvorbereitet ansehen sollte. Wer sich jedoch vor der Show eingehender mit dem Programm-Plakat-Flyer auseinander setzt, aufmerksam die Lebensdaten Poes studiert und die Handlungsbeschreibung liest, wird mit einem außergewöhnlichem Theaterabend belohnt, der optisch und akustisch zu fesseln versteht. Schließlich verlangt niemand, der Tiefensymbolik von Käfigen und Raben bis ins Detail verstehen zu müssen, die sich wie ein roter Faden als Sinnbild für Konventionen und Tod durch das Musical ziehen. Man vergisst schnell bei der Opulenz von Kostümen und Bühnenbild, dass man sich “nur” in einer Stadttheaterproduktion befindet!
Blickpunkt Musical,Stephan Drewianka, Oktober/November 2009

Bad Hersfelder Festspiele

FORT VON ALLEN SONNEN?

‘Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen?’ Fragen, die der Dichter und Philosoph Friedrich Nietzsche uns in ‘Der tolle Mensch’ (1882) stellt. Nun fragt sich, wie Nietzsches Worte in das Musical ‘Jekyll & Hyde’ kommen… Antworten findet man in Frank Alva Buechelers feinsinniger Neuinszenierung des Stoffes.
Ungewöhnlich ist schon der Beginn der Bad Hersfelder Inszenierung: Noch während das Orchester die Instrumente stimmt, betreten fast unbemerkt, sozusagen nebenbei, die ersten Ensemblemitglieder die Bühne. Ein lebendiges Bild entsteht und mit einem Mal befinden wir uns in London, mitten im lebhaften Treiben auf dem Trafalgar Square. Rund um die Nelson-Säule treffen Adel und Arbeiterklasse aufeinander. Ein Polizist jagt einem Dieb hinterher, ein Buchhändler preist seine Ware an, ein Zeitungsjunge verkauft die neueste Ausgabe. Damen und Herren der Oberschicht flanieren, leichte Mädchen werden miss- trauisch beäugt. Kein Gespräch ist zu vernehmen, nur Straßengeräusche und das Schlagen der Turmuhr von Big Ben untermalen die Szenerie. Zwei Damen, von denen eine wirkt, als würde sie auf jemanden warten, sprechen eine vorübergehende Frau an…  als zwei junge Herren auf Fahrrädern heraneilen, die sogar während der Fahrt ihre Diskussion über ein offensichtlich hoch brisantes Thema fortsetzen. Mit dem Erscheinen der Freunde ‘Dr. Henry Jekyll’ (Jan Ammann) und ‘John Utterson’ (Rory Six) nimmt nun das Musical um die geheimnisvolle Doppelexistenz des Dr. Henry Jekyll seinen Lauf. Komponist Frank Wildhorn und Texter Leslie Bricusse belebten einen Stoff, der zurückgeht auf den Kurzroman ‘The Strange Case of Dr. Jekyll & Mr. Hyde’ von Robert Louis Stevenson (1885/86). Seit der Broadway-Premiere im Jahr 1997 wird das Musical um den Wissenschaftler, der in einem Selbstversuch sein böses Alter Ego erschafft, auf den Bühnen vieler Länder gespielt. Frank Alva Buecheler brachte 1999 das Stück als Produzent nach Deutschland und führt jetzt in Bad Hersfeld erstmals selbst Regie.

Zeitgemäß

Zeitlich etwas nach vorne verschoben ist die Handlung: John Utterson und Dr. Jekyll fahren ‘Niederräder’, Lord Savage erwähnt die erste Londoner Untergrundbahn – so muss also Buechelers Jekyll im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts leben. Zeitgemäß die schönen und aufwendigen Kostüme von Designerin Hannelore Nennecke, die von vielen fleißigen Händen in den Bad Hersfelder Werkstätten angefertigt wurden. Man unterscheidet sofort deutlich Ober- und Unterschicht. Lisa Carew trägt anfangs ausladende Kleider mit reichem Besatz und Rüschen, die sie als Tochter aus traditionell viktorianischem Hause ausweisen. Im Gegensatz dazu ist das Kleid der modernen Dame in der Eröffnungsszene bereits kürzer und schmaler geschnit- ten. Interessant, dass auch Lisas Bekleidung im Verlauf der Handlung immer schmaler wird und so auch optisch die Entwick- lung der Figur widerspiegelt. Mit viel Liebe zum Detail ist auch die Kleidung der Prostituierten gestaltet, lila und schwarz dominieren die Farbtöne der ‘Mädchen der Nacht’. Im Kontrast zu den detailgetreuen historischen Kostümen stehen die modernen begehbaren Alugerüste, die das Bühnenbild von Robert Pflanz bestimmen. Einige umschließen die Pfeiler der Stiftsruine, andere trennen Apsis und Vorderbühne, ein weiteres verschiebbares Gerüst dient als Dr. Jekylls Labor. Das Farbenspiel der Lichtregie von Lukas Kaltenbäck taucht die Stangen je nach erforderlicher Stimmung in Grün, Pink, Rot oder Orange. Rot ist auch die Lampe, die an der Fassade der ‘Roten Ratte’ hängt und die Türklappe, durch die man hinab in die lustvolle Unterwelt steigt. Kaltes Grünlicht unterstreicht die gespenstische Stimmung bei den Verwandlungen von Dr. Jekyll in Mr. Hyde. Zum Bühnenbild gehört neben der Nelson-Säule auch ein kleiner Pavillon, dessen Gestänge nur teils verkleidet ist. Als Hintergrund der Verlobung und später der Hochzeit von Lisa und Henry, ist er ihrer Beziehung zugeordnet. Einige weiße Blöcke werden während des Stückes in vielfältiger Weise als mobile Sitzgelegenheiten und zur Strukturierung des vorderen Raumes genutzt. Die Apsis mit der schrägen Hinterbühne bleibt außen vor. Einzige Ausnahme: als Dr. Jekyll sich zum Selbst-versuch entschließt, erstrahlt die Apsis synchron zum Liedtext ‘Das ist die Stunde, das ist der Tag. Sieh den leuchtenden Schein’ Meter um Meter in immer heller aufgleißendem Licht – ein Gänsehauteffekt sondergleichen. Ansonsten dient der riesige Raum allenfalls noch als Hintergrund und wird lediglich durch szenisch passende farbige Illumination der Fensteröffnungen einbezo- gen. Von den seitlichen Plätzen ist die Hinterbühne nicht völlig einsehbar, so ist verständlich, dass dort keine wichtigen Spiel- zenen stattfinden. Doch leider wird auch der freie Blick in die Apsis während des Stückes häufig durch ein verschiebbares Gerüstelement verstellt. Während die Pfeilergerüste und auch das mobile Laborgerüst ihren Sinn im Raum erfüllen, schneidet diese “Wand” die Bühne nach hinten ab.

Neue Texte

Erstmals seit der Deutschlandpremiere wurde eine komplett neue deutsche Textfassung erarbeitet, die der Intention des Originals gerecht wird und einige missverständliche Passagen klärt. Das Libretto wurde für Bad Hersfeld leicht gekürzt, unter anderem fehlt das Lied ‘Die Welt ist völlig irr’. Die geänderte Abfolge der Titel passt sich der Intention des Regisseurs an. Direkt nach dem Prolog steht nun als erster großer Musiktitel ‘Fern und verloren’. In ihm kommt Henry Jekylls liebevolle Sorge um den an Schizophrenie leidenden Vater zum Ausdruck. Alle Kollegen, auch Sir Danvers Carew, sind davon überzeugt, dass für den Kranken der Tod eine Erlösung wäre und bis dahin die Welt vor ihm und er vor sich selbst beschützt werden müsse. Doch für Dr. Jekyll ist die Krankheit seines Vaters und der Wunsch, ihm zu helfen, die endgültige Bestätigung, dass er seine Forschungen um jeden Preis fortführen muss. Ein roter Faden führt von ‘Fern und verloren’ über ‘Ich muss erfahren’ — ‘Der Vorstand von St. Jude’ — ‘Dies ist die Stunde’ —  ‘Der Weg zurück’ — bis hin zur ‘Konfrontation’. Auch die Anordnung der Musiktitel, die Dr. Jekylls und Mr. Hydes Doppelbeziehung zu Lisa Carew auf der einen und Lucy Harris auf der anderen Seite darstellen, folgt dem Verlauf der Neuinzenierung. Lisa Carew begreift, dass Henry Jekylls Traum etwas ist, was sie beide verbinden kann. Sie bringt dies in ‘Als es einst begann’ zum Ausdruck und erinnert ihren Verlobten in der Reprise ‘Da war einst ein Traum’ an den gemein- samen Lebensplan. Für die Prostituierte Lucy Harris steht die Begegnung mit Dr. Jekyll für die Hoffnung auf ein neues Leben. Während Dr. Henry Jekyll die Wunden verbindet, die er Lucy als Mr. Edward Hyde geschlagen hat, verleiht sie ihrer Hoffnung in ‘Mitgefühl, Zärtlichkeit’ auf berührende Art und Weise Ausdruck. Das Thema wird in ‘Ein neues Leben’ wieder aufgenommen und Lucy wagt den Ausblick auf eine neue Zukunft. Die Hoffnung wird durch ihren Tod jäh zerstört. Vor dieses Ende setzt die Bad Hersfelder Inszenierung eine makabere Reprise von ‘Mitgefühl, Zärtlichkeit’, mit der Mr. Hyde Lucys Gefühle für Henry Jekyll verhöhnt, bevor er sie brutal erwürgt.

Dingsymbole

Dingsymbole kennt man aus der Literatur. Pflanzen oder Gegenstände werden bewusst verwendet, um tiefere Sinnzusammen- hänge zu verdeutlichen. Der Einsatz dieses Stilmittels im Musiktheater ist dagegen eher ungewöhnlich. Die Bad Hersfelder Inszenierung steckt voll’ solcher symbolischer Details, die im Verlauf der Geschichte eine besondere Funktion erfüllen. Der Zuschauer ist aufgefordert, genau hinzuschauen und mitzudenken. Zwei dieser Dingsymbole tauchen schon im Anfangsbild auf. Nellie (Silke Dubilier), die Puffmutter aus der ‘Roten Ratte’, kauft ein Buch für ihren Schützling Lucy Harris (Maaike Schuurmans). Als ihr Geschenk zurückgewiesen wird, behält sie es und liest einige Male darin, bevor ihr das Buch in der Szene von ‘Mädchen der Nacht’ aus der Tasche fällt. Eines der Mädchen reicht es ihr zurück und Nellie beginnt die Parabel ‘Der tolle Mensch’ vorzulesen. Wie bei einer Märchenstunde scharen sich die ‘Mädchen der Nacht’ um Nellie und lauschen gespannt ihren Worten. Die Lesung findet ein jähes Ende, denn Zuhälter Spider (Sören Kruse) reißt Nellie das Buch aus den Händen, liest den Text in höhnischem Tonfall zu Ende und zerreißt schließlich laut lachend die Seiten. Eine Armbanduhr wird als weiteres Dingsymbol eingesetzt. Henry Jekyll (Jan Ammann), in Gedanken ganz bei seinen Forschungen, vergißt seine Verabredung mit Lisa Carew (Annemieke van Dam) und kommt dann sogar zu seiner eigenen Verlobungsfeier zu spät. Wie passend ist deshalb das Geschenk seiner Verlobten Lisa Carew. Die Armbanduhr, die ihm Lisa eigenhändig um das Handgelenk legt, soll ihm helfen, den Bezug zum Hier und Jetzt nicht ganz zu verlieren… und pünktlich zu sein. Henry Jekyll trägt diese Armbanduhr auf der Bühne bis zur ‘Konfrontation’. Nachdem sein böses Alter Ego das letzte Wort hatte, fehlt die Uhr. Der Verlust der Uhr steht für Jekylls Kontrollverlust über Hyde und markiert den Zeitpunkt, an dem es für einen ‘Weg zurück’ zu spät ist. Edward Hyde hat Besitz von Henry Jekyll ergriffen. Die Uhr taucht von da an nicht mehr auf und fehlt bezeichnenderweise auch bei der Hochzeitszeremonie, an deren Ende ‘Jekyll & Hyde’ erschossen wird.
Der grüne Zweig, den Lucy Harris mit in die Ordination von Dr. Jekyll bringt, stellt ein weiteres Sinn stiftendes Detail dar. Sie trägt ihn genau so, wie eine Frau der Oberschicht einen Strauß Blumen in der Hand hält. Auch während Dr. Jekyll sich um ihre Verletzungen kümmert, behält sie den Zweig immer in der Hand. Am Ende der Untersuchung verlässt Jekyll zuerst den Raum. Lucy zieht ihren Umhang wieder um sich und ist schon beinahe durch die Tür, als sie sich nach kurzem Zögern noch einmal hastig umdreht und den Zweig auf dem Labortisch zurück lässt. Wie der biblische Ölzweig für die Archebewohner, so steht auch Lucys grüner Zweig für die Hoffnung auf ein neues Leben. Lucy legt ihre ganze Hoffnung in Dr. Jekylls Hände. Doch erfüllen kann sich diese nicht, denn bevor Dr. Jekyll den Zweig bemerken könnte, leistet Butler Poole (Sven Prüwer) ganze Arbeit und beseitigt mit einem verständnislosen Kopfschütteln alle Spuren des unliebsamen Besuchs… auch den Zweig.

Zwei Seelen wohnen ach….

Bewusst anders ist Frank Alva Buechelers Inszenierung insbesondere bei seiner Darstellung der Hauptfigur(en). Mr. Hyde ist nicht einfach ein Monster, das der Wissenschaftler Dr. Jekyll erschafft und dessen dieser dann nicht mehr Herr wird. Viel subtiler geht der Regisseur an die Thematik heran. Vom Beginn bis zum Ende des Stückes ist Mr. Hyde ohne Dr. Jekyll nicht zu denken und umgekehrt. Jekyll und Hyde stehen für die Dualität, die per se in jedem Menschen vorhanden ist. Durch das Spritzen des Elexiers JH7 setzt Dr. Jekyll nur die Charakter- eigenschaften frei, die immer schon ein Teil seines Selbst waren. Als Mr. Hyde lebt er hemmungslos Gier, Hass und Aggressionen aus, also den Teil seiner Persönlichkeit, den er schon als Dr. Jekyll oft nur mühsam kontrollieren kann. Dass in Dr. Jekyll immer schon ‘ein Hyde’ lebte und hervorzubrechen suchte, zeigt sein Verhalten vor dem Krankenhausvorstand. Während er sein Vorhaben verteidigt, gibt es Momente, in denen Züge des Mr. Hyde deutlich hervortreten. Ebenso bleiben in Mr. Hyde Züge von Dr. Jekyll erhalten. Lucy Harris fühlt sich bei aller Angst genau aus diesem Grund von Mr. Hyde angezogen. Immer wieder überschneiden sich im Verlauf des Stückes die beiden Naturen, jede macht eine Entwicklung durch. Anfangs mordet Mr. Hyde in Übereinstimmung mit Dr. Jekylls heimlichen Wünschen. Er bestraft die, die seine Forschungen ablehnen und enthüllt dabei ihre Fassade. Allmählich aber findet Mr. Hyde Lust am Töten und verfolgt mit seinen Morden eigene Ziele. Hyde entwickelt brutalste seelische Grausamkeit. Es bereitet ihm sichtlich mehr und mehr Genuss, Menschen zu quälen und in Angst zu versetzen, bevor er sie tötet. Bevor er Lucy Harris erwürgt, lässt Hyde sie erkennen, dass der Mann, den sie als so mitfühlend und zärtlich verehrt, der gleiche Mann ist, der ihr Schmerzen zugefügt hat. Danach drückt er ihr genüsslich ganz langsam die Luft ab. Sein kaltes Grinsen begleitet ihren Todeskampf. Dieser Mord ist für Hyde eine besondere Genugtuung, denn er kann so nicht nur seine Lust an der Gewalt befriedigen, sondern auch Jekyll leiden sehen. Weit beklemmender noch als die körperliche Gewalt, mit der Hyde gegen seine Opfer vorgeht, ist das satanische Vergnügen, das er beim Töten empfindet. Während Hyde diese Entwicklung zum seelisch-brutalen Mörder durchmacht, verliert Dr. Jekyll jedes planende Denken und alle Kontrolle über sich. Der ehemals besessene Wissenschaftler wird zum Besessenen. Nicht mehr fähig, seine Forschungen kontrolliert fortzuführen, entgleiten ihm letzlich alle Werte, die sein Leben in festen Bahnen hielten. Alle Kräfte, die ihn vorwärts drängten – auch seine Ungeduld, sein Jähzorn, seine unterdrückte Wut – hat er in Hyde freigesetzt. Für Jekyll bleiben jetzt nur die ‘guten’ Eigenschaften. Doch eine Persönlichkeit, die ausschließlich ‘gut’ ist, hat keine Chance, zu überleben. Nur als Mr. Hyde auch Nellie umbringt, gibt es noch einmal ein Innehalten. Das Entsetzen über diese Tat ist so groß, dass es Dr. Jekyll noch einmal gelingt, das Böse wieder in sich zurückzudrängen. Hyde verschwindet zunächst. Doch bei der Hochzeit bricht das Zerstörerische in Jekyll erneut aus. Nachdem Mr. Hyde Lisas ehemaligen Verehrer mit großem Genuss ermordet hat, bringt er Lisa in seine Gewalt. Allein das Band der Liebe, das Lisa und Jekyll immer noch verbindet, macht es ihr möglich, in Hyde noch Henry Jekyll zu erkennen. Er lässt sie los. Doch um seine künstlich gespaltene Persönlichkeit wieder zu vereinen und so Dr. Henry Jekyll zu erlösen, gibt es nur einen Möglichkeit. John Utterson greift zur Waffe, um Jekyll & Hyde zu erschießen. Der stets loyale Freund kommt weder mit dem Erlebten noch mit seiner Tat klar. So erscheint sein Selbstmord denn auch als geradezu unweigerliche Folge.

Fantastische Darsteller

Mit Jan Ammann, dem Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Bad Hersfeld, haben Intendantin Elke Hesse und Regisseur Frank Alva Buecheler einen außergewöhnlich charismatischen Darsteller gefunden. Jan Ammann überzeugt in der Doppelrolle durch einen bravourösen Umgang mit seiner Stimme. In ‘Fern und verloren’ streichelt Henry Jekyll seinen Vater gleich in doppelter Hinsicht — mit den Händen und einer Stimme, die hier ungeheuer zärtlich und sanft klingt. Dadurch kommt die liebevolle Behandlung des Kranken noch stärker zum Ausdruck. Während des großen zentralen Solos ‘Dies ist die Stunde’ zeigt Jan Ammann mannig- fache Stimmfarben und beweist, wie kraftvoll und energiegeladen seine Stimme klingt. Doch kurz darauf wird klar: Diese Stimme kann nicht nur schön klingen. Die Menschen verachtende seelische Grausamkeit des Mr. Hyde spiegelt sich auch im rauheren, tieferen Gesang des rücksichtslosen Alter Ego von Henry Jekyll. Dank der excellenten Beherrschung seines Instru- ments gelingt es Jan Ammann augenblicklich, den Sprachduktus seiner Doppelrolle zu wechseln. Da wirkt überzeugend, dass Henrys Verlobte Lisa für einen Augenblick denkt, ihr Verlobter sei jemand anderes. Vollkommen glaubhaft auch, dass Lucy Harris den Mann, der sich ihr auf dem Gerüst nähert, für einen Moment für einen anderen hält. Jan Ammann überzeugt mit seinem variablen Gesang ebenso, wie mit seinem intensiven Schauspiel. Er hat sich die beiden Seiten der Doppelrolle von ‘Jekyll & Hyde’ sichtlich bis ins kleinste Detail erarbeitet. Seine Darstellung des Dr. Jekyll zeigt beide Seiten: den jungen humorvollen Gentleman und den fanatischen Wissenschaftler. Sein Mr. Hyde scheint zu wachsen, wirkt muskulöser, allein durch Änderung in der Haltung. Jan Ammann zeigt die Nähe der beiden Figuren vor allem während Jekylls Forschungsplädoyers. Das Weiß der Augäpfel tritt hervor und Dr. Jekyll rüttelt an den Stäben des Gerüstes, voll Jähzorn über den Unverstand der Vorstandsmit-glieder. Auch bei der Verlobung erdolcht Henry Jekyll den Möchtegern-Konkurrenten Simon Stride (Till Schubert) buchstä- lich mit seinen Blicken. In ‘Ein gefährliches Spiel’ dagegen verleiht Jan Ammann Mr. Hyde immer wieder für Momente die Züge eines zärtlichen Henry Jekyll. Als Hyde beginnt, Besitz von Jekyll zu ergreifen, wird letzterer immer schwächer. Mit enormer Ausdrucksstärke spielt Jan Ammann hier einen Jekyll zwischen Entzugserscheinungen und Wahnsinn mit zitternd geballten Händen und umherirrendem Blick, der sich am Boden windet und wie ein Häufchen Elend in einer Ecke seines Labors kauert. Dieser Henry Jekyll fragt sich zitternd und mit schwankendem Kopf: ‘Bin ich ein Mensch noch?’

Die ‘Konfrontation’ kann man nur als darstellerische und gesangliche Glanzleistung bezeichnen. Das Böse braucht keine verfilzte Mähne und kein wildes Umhertaumeln. Lediglich unterstützt durch den Farbwechsel von weiß – für Jekyll – nach grün – für Hyde – schafft es Jan Ammann alleine durch seine extrem aussdrucksstarke Mimik, das Publikum tatsächlich zwei Personen sehen zu lassen. Als Jekyll hebt er in drohend-hilfloser Gebärde  die ausgestreckten Arme zu Hyde empor, als Hyde fährt er aus scheinbar endloser Höhe auf Jekyll nieder, bereit, ihn endgültig auszulöschen. Tatsächlich bewegt sich Jan Ammann nur mit kleinen schnellen Seitwärtsdrehungen auf der Stelle. Dimension erhält die Szene alleine durch seine unglaubliche Bühnenpräsenz und Darstellkunst. Stimmlich findet Jekyll mit klaren, offenen Tönen Ausdruck, während Hyde in tieferer Tonlage gesungen wird. Der immer schnellere Wechsel zwischen den Charakteren innerhalb der ‘Konfrontation’ verdeutlicht einmal mehr die Nähe zwischen Jekyll und Hyde. So sind auch teils in Jekylls Passagen Töne des Hyde versteckt und umgekehrt. Regieansatz und darstellerische Umsetzung werden in der ‘Konfrontation’ auf höchstem Niveau vereint.
Parallel zum Gegensatzpaar ‘Jekyll’ und ‘Hyde’ machen auch die beiden weiblichen Protagonisten, Jekylls Verlobte ‘Lisa Carew’ (Annemieke van Dam) und die Prostitutierte ‘Lucy Harris’ (Maaike Schuurmans), eine Entwicklung durch. Lisa Carew, die behütete Tochter von Sir Danvers Carew, sanft und klug, steht die dunkle Prostituierte Lucy Harris gegenüber. Ein behütetes Leben kennt sie nicht. Die einzige Fürsorge, die ihr je zuteil wurde, ist die ihres Zuhälters, der stets darauf bedacht ist, dass der Star seines Etablissements auch ja vollen Einsatz zeigt… Lucy hat gelernt, ihr Temperament zu zügeln und ihre Meinung für sich zu behalten.
Annemieke van Dams glockenklarer Sopran scheint kaum Grenzen zu kennen, verliert aber in großen Höhen etwas an Kraft. Die Inzenierung verlangt von ihr, Lisa als junge selbstbewusste Frau darzustellen, die schon bei der Verlobung ihre Position zu behaupten weiß, bevor sie sich zunehmend zu einer wirklichen Partnerin für Jekyll entwickelt. Als kluge Verlobte bemüht sie sich, ihn zu verstehen und seine Vision mit ihm zu teilen. Nur so kann sie an seinem Leben teilhaben. Im Duett mit ihrem Vater (Matthias Degen) lässt Lisa keinen Zweifel daran, dass sie zu ihrem Auserwählten steht. Sie verteidigt Henrys Forschung, obwohl auch sie seinen Ideen nicht folgen kann. Dadurch knüpft sie ein starkes Band, das es ihr ermöglicht, Jekylls Gefühle für sie zu aktivieren, als Hyde sie in seiner Gewalt hat. Die schauspielerische Umsetzung dieses Frauenprofils gelang der jungen Darstellerin bei der Premiere noch nicht an allen Stellen überzeugend. Am stärksten spielte sie in der Labor- und vorher schon in der Verlobungsszene. Lisa Carew macht hier ihrem ehemaligen Verehrer Simon Stride unmissverständlich klar: ‘Ich gehöre nur mir’ und ‘Ich bin ich’. Maaike Schuurmans besitzt eine extrem starke Bühnenpräsenz. Alle Augen folgen ihr, wenn sie die abgebrühte Prostituierte in ‘Männer her’ spielt und dabei als Tänzerin begeistert. Ihre intensive und facettenreiche Darstellung zeigt Lucy Harris als starke Frau mit großer Verletzlichkeit. Je mehr die Hoffnung in Lucy wächst, dass es für sie doch noch ein anderes Schicksal als die Prostitution geben könnte, desto stärker betont Maaike Schuurmans Lucys weiche Seite. In den Soloparts spiegeln sich in Maaike Schuurmans Stimme Lucys Verletzlichkeit und ihre Suche nach Liebe wieder. In den Duetten harmoniert Maaike Schuurmans sowohl mit Jan Ammann als auch auch mit Annemieke van Dam ganz hervorragend. Ihre warme kraftvolle Stimme gibt Lucys Leidenschaft und Energie aufs Beste wieder.
Viele Ensemblemitglieder spielten und spielen anderswo auch Hauptrollen. Das ist sicher ein Grund, dass die Damen und Herren der Jekyll & Hyde-Cast auf ganzer Linie überzeugen und in der Stiftsruine auf höchstem Niveau agieren. Die Bad Hersfelder Probenzeit ist kurz:  Innerhalb von gerade sechs Wochen waren die anspruchsvollen Partituren und die nicht minder anspruchsvollen deutschen Texte zu erlernen und schauspielerisch umzusetzen. Hinzu kam die choreographische Arbeit unter der Leitung von Rüdiger Reschke. Das Ensemble musste sich für die großen Ensembleszenen ‘Fassade’ und vor allem ‘Mörder, Mörder’ die Weite der Bühne auch räumlich zu eigen machen. Reschke brachte die gesamte Cast zum Tanzen und ließ sie in ‘Mörder, Mörder’ zuerst mit Zeitungen, später mit Schirmen jonglieren. Parallel zu der Steigerung des öffentlichen Interesses an den Morden steigt bei der wiederkehrenden Phrase die Anzahl der Zeitungen und die Bühne füllt sich mit immer mehr Akteuren, die sich immer schneller bewegen. In den ‘Massenszenen’ wird das Ensemble vom Chorverein Bad Hersfeld unterstützt, der laut Rüdiger Reschke von Anfang an mit bewundernswertem Elan und Professionalität bei der Sache war und tollen Einsatz zeigte. Speziell der Umgang mit den Gerüsten erfordert in Bad Hersfeld — auch zur Sicherheit der Darsteller — eine genaue Szenenchoreographie, die den generellen Bewegungsablauf festlegt. In ‘Ein gefährliches Spiel’ bildet Reschkes Choreographie den Rahmen für das ausdrucksvolle Spiel von Maaike Schuurmans und Jan Ammann. Mr. Hyde folgt in einem ‘erotischen Nachlauf’ Lucy Harris über die verschiedenen Ebenen des Gerüstes nach unten. Beiden Darstellern gelingt es eindrucksvoll, durch Momente des Körper- und Blickkontaktes die gefahrvolle Erotik des Spiels zwischen Lucy und Hyde zu vermitteln. Musikalisch wird das Ensemble von ‘Jekyll & Hyde’ durch das 16-köpfige Orchester unter der Leitung von Christoph Wohlleben in Szene gesetzt, das durchweg begeisterte. Bei den neuen musikalischen Arrangements fallen die zahlreichen Blasinstrumente, wie Trompete, Horn oder Oboe auf, die den Ton in Bad Hersfeld bestimmen. Besondere Akzente setzt Christoph Wohlleben mit den Percussions. Da wird etwa der glockenklare Sopran von Annemieke van Dam durch ein Glockenspiel hervorgehoben und Szenenübergänge sowie Spannungsbögen effektvoll untermalt.

Fröhliche Wissenschaft

Frank Alva Buechelers Neuinszenierung von ‘Jekyll & Hyde’ möchte den Zuschauer zum Nachdenken anregen. Sie verknüpft die Vision Dr. Henry Jekylls geschickt mit Zitaten aus Friedrich Nietzsches Parabel ‘Der tolle Mensch’ (Band 3 von ‘Die fröhliche Wissenschaft’). In mahnender Funktion durchzieht der Nietzsche-Text das Geschehen auf der Bühne. Die eingestreuten Lesungen fügen sich harmonisch ein und thematisieren das egozentrische Denken und Handeln des fanatischen Wissenschaft- lers Dr. Henry Jekyll. Das Leiden des Vaters bildet den Ausgangspunkt der ehrgeizigen Vision des jungen Wissenschaftlers, Gut und Böse voneinander trennen zu wollen. Jekyll senior war, bevor er an Schizophrenie erkrankte, ein hoch angesehener feiner Herr und Henry Jekylls großes Vorbild. Der Sohn versteht seine wissenschaftliche Forschung deshalb als eine einsame Mission, als eine Art Gralssuche. Unmittelbar nach Jekylls erster Darlegung seiner Vision gegenüber seinem Freund John und seiner Verlobten Lisa kommt aus dem Off die erste mahnende Lesung, die vor den Folgen warnt. In seiner Hybris aber kümmern Henry Jekyll die Konsequenzen seines Vorhabens nicht. Er hört auch nicht auf die Warnungen des väterlichen Sir Danvers Carew, der den jungen Wissenschaftler ermahnt, doch die heiligen Grenzen zu beachten. Während Dr. Jekyll den Vorstand des St. Jude-Hospitals davon überzeugen will, dass für das heere Ziel seines Forschungsvorhabens Versuche am Menschen notwendig sind, erklettert er das Gerüst immer weiter und ist dem Himmel schließlich so nah, wie er es mit seiner Forschung zu sein glaubt. Am linken Gerüst hängt während seiner flammenden Rede ein Banner, das das Ziel von Dr. Jekylls Forschung thematisiert: Live can be relieved. Demnach möchte er Menschen wie seinem leidenden Vater das Leben erleichtern. Die Vorstandsmitglieder erklären ihn für verrückt und ersticken seine Ausführungen im Keim. Ausgerechnet der Bischof von Basingstoke, im Stück ein wahrlich abschreckender Vertreter der Kirche, ist der Einzige, der sich zumindest ansatzweise mit Jekylls Theorien befasst. Am rechten Gerüst hängt das Transparent, das seine dringende Frage thematisiert: What happens to the evil? Doch der fanatische Forscher Dr. Henry Jekyll fragt nicht nach dem Verbleib des Bösen. In seiner Hybris malt er dem Vorstand aus, dass man mit seiner Forschung eine Zukunft aus eigener Hand und ein Leben nach Maß schaffen könne. Ihm zuzustimmen, bedeute ‘Ja’ zur Zukunft und zu notwendigen Veränderungen zu sagen. Dann sind wir selbst das Schicksal. Damit kettet sich Dr. Jekyll -  wie es ‘Der tolle Mensch’ sagt -  von Gott los, ‘fort von allen Sonnen’. Wozu braucht er auch die Sonne, wenn er sich selbst als Lichtbringer sieht. Somit bezieht sich der Nietzsche-Text ganz konkret auf Dr. Jekylls Vision, die böse Natur von der guten Natur im Menschen zu trennen. Die Mahnung im Anschluss an die Szene thematisiert nun deutlicher die Folgen seiner Hybris: ‘Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?’ Vorausschauend droht das Nietzsche-Zitat damit die möglichen Folgen der künstlich herbeigeführten Schizophrenie an. In der ungewöhnlichen Lesung von Nellie und Spider in ‘Mädchen der Nacht’ erklingen die mahnenden Worte ein letztes Mal. Diesmal kommen sie nicht aus dem Off, sondern werden Figuren aus dem Stück in den Mund gelegt, wobei Nellie die zunehmende ‘Nacht’ bekräftigt und damit auf die wachsende Macht der Hyde-Seite verweist. In Gestalt des Buches ist die mahnende Parabel in dieser Szene sowohl im gesprochenen Wort als auch gegenständlich präsent. Frank Alva Buecheler greift mit seiner anspruchsvollen und intentionalen Inszenierung auf besondere Weise das Thema auf, das als roter Faden die drei großen Stücke der Bad Hersfelder Festspiele 2008 verbindet: Fanatismus. ‘Fort von allen Sonnen’ kann jede fanatische Vision meinen, die die Grenzen von Humanität und Vernunft überschreitet — ob eine religiöse Vision wie der ‘Heilige Krieg’ oder die wissenschaftliche eines Dr. Jekyll, der seinen Menschen nach Maß im Reagenzglas züchten will.

Ungewöhnliches Ende

In der letzten Szene von Frank Alva Buechelers subtiler Inszenierung schließt sich der Kreis. Mit dem Tod von Jekyll/Hyde ist die Geschichte eigentlich zu Ende. Doch es folgt ein Schlussbild, das im Gegensatz zu Nietzsches Parabel außerhalb der Geschichte steht. Es herrscht wieder Alltag auf dem Trafalgar-Square. ‘Jekyll’ erscheint und wirkt verwirrt, geradeso, als wäre er soeben aus einem Traum erwacht. Sollte der Regisseur die ganze Geschichte als Alptraum darstellen wollen? Mit einem Mal nähert sich von drei Seiten jeweils ein ‘Hyde’. Gemeinsam ringen die ‘Hydes’ in Zeitlupe den fassungslosen Jekyll zu Boden. Der Zuschauer wird mit diesem rätselhaften Ende allein gelassen. Es verlangt von ihm, sich vom Stück und seiner Geschichte zu lösen, um die Konstellation von Jekyll und Hyde auf einer übertragenen Ebene zu überdenken. Drei Hydes sind gegen einen Jekyll deutlich in der Übermacht. Gilt dies auch für das Böse? Warnt Regisseur Frank Alva Buecheler davor, den Hyde in jedem von uns zu unterschätzen?

Barbara Kern/Sylke Wohlschiess, www.musicalclub24.de

DAS SPIEL VON DER VERLANGSAMTEN ZEIT

Frank Alva Buecheler inszeniert DIE GLASMENAGERIE

Von Siggi Seuß , Neue Presse Coburg 25.02.2008

Was die Inszenierung zu einem Ereignis macht, das sich von einer flüchtigen Begebenheit unterscheidet? Die Zeit wird eingesperrt in Frank Alva Buechelers Interpretation der „Glasmenagerie“ im Maßbacher Theater. Die Zeit wird eingesperrt und in der üblichen Verlorenheit der Figuren in Tennessee Williams Drama leuchtet – wider Erwarten – ein leicht ironischer Hoffnungsschimmer. Der amerikanische Dramatiker (1911-1983) hat den Begriff vom Arretieren der Zeit geprägt, um zu erklären, warum wir einem Ereignis auf der Bühne eine Bedeutung beimessen, während das gleiche Geschehen im richtigen Leben an uns vorbeirauscht im Strom von tausend Geschichten. Frank Alva Buecheler hat diese Erkenntnis vom Kopf zum Herzen befördert. Entstanden ist ein zauberhaftes Kammerspiel, in dem die Zeit verlangsamt, das heißt aus dem Fluss der Begebenheiten herausgelöst erscheint. Das familiäre Drama, das Williams in der 1930-er Jahren in einer schäbigen Mietwohnung in einem Stadtviertel von St. Louis ansiedelt, bleibt zwar in seiner Geschichte, wird aber trotzdem zu einer zeitlosen Metapher für die gegenseitige Abhängigkeit von Menschen. Da ist die Mutter Amanda (Tommy Völckers), die längst verlorenen, angeblich besseren Jahren hinterher träumt und ihre Idealbilder tyrannisch auf Sohn und Tochter projiziert. Da sind die erwachsenen Kinder (Thomas Klischke und Silvia Steger), die sich ihrerseits in eigene Parallelwelten geflüchtet haben. Tom (als Erzähler lässt er die Ereignisse in der Erinnerung lebendig werden) verliert sich in der Welt des Kinos. Die von Minderwertigkeitskomplexen gepeinigte Laura liebt nichts mehr als die Welt ihrer Glasmenagerie, einer Sammlung winziger Tierchen aus Glas. Sozial lebt die junge Frau völlig isoliert. Die gegenseitige Abhängigkeit der Drei (der Vater hat sich längst verflüchtigt) fokussiert der Regisseur wie unter einem Vergrößerungsglas. Kein überflüssiges Requisit stört den konzentrierten Blick auf die Personen. Das reduzierte, abstrakte Bühnenbild von Anita Rask Nielsen lässt die Charaktere deutlich hervortreten und die Kostüme von Jutta Reinhard verleihen den Figuren eine zeitgemäße Kontur. Ein Teil der Handlung hören wir aus dem „Off“ hinter der Bühne, was die Assoziationsfähigkeit zusätzlich anregt. Am meisten erstaunt die konsequente Langsamkeit – zu der auch stille Augenblicke gehören -, mit der die Schauspieler das Geschehen wie aus sich selbst heraus dramatisieren. Wüsste man es nicht besser, würde man Tommy Völckers tatsächlich für Amanda halten, für eine Mischung aus verarmter Südstaatenlady und Bree Hodge, der hochneurotischen Hausfrau und Mutter aus der TV-Serie „Desperate Housewives“. Auch Silvia Steger, Thomas Klischke und Arno Friedrich (als Toms Arbeitskollege Jim, der sich nach der Vorstellung der Mutter um Laura „kümmern“ soll) beeindrucken in der Entfaltung ihrer Figuren. Die diffizile und sensible Begegnung Jims mit der äußerst zerbrechlichen Welt Lauras ist fast so etwas wie eine Geschichte in der Geschichte. Die Szene der Annäherung bis zum gemeinsamen Tanz drückt nahezu ohne Worte aus, was es bedeutet, die Zeit einzusperren. Ein berührender, ja unvergesslicher Augenblick, herausgefischt aus dem Strom der Geschichte. In seiner Intensität öffnet er unseren Blick für die glaubwürdige Konsequenz, die der Regisseur dem zukünftigen Handeln der Personen ermöglicht. Als ob sich im Sonnenlicht, das sich in den Glasfigürchen bricht, nicht nur Illusionen Spiegelten sondern auch Hoffnungen auf ein Leben vor dem Tod. Wenn denn die Maßbacher nicht vorrangig von leichterer Muse leben müssten, dann könnte man uns und ihnen mehr von solchen Zauberkunststücken wünschen.

SO VIEL INNENHANDLUNG GIBT ES SELTEN

Langer Applaus für die Maßbacher mit Hauptmann EINSAME MENSCHEN in einer Neubearbeitung

BAD KISSINGEN. Manchmal hat man im deutschen Kulturleben auch Glück. Da hofft man dann, dass möglichst viele es mer- ken. Der Region Bad Kissingen ist solches Glück beschieden in Zeiten, in denen viele Sprechbühnen sich als publikumsfeindliche Spielwiese selbstverliebter Regisseur ins Abseits katapultieren oder politisch gewollt durch höchststaatliche Finanznebel von der Bildfläche verschwinden oder sich dem seichten Mainstream-Geschmack bis zur Selbstentäußerung anbiedern. Und dann dies. So ganz allmählich hat sich in der Nachbarschaft von Bad Kissingen im mit nur zwei Ensembletheatern nicht gerade verwöhnten Unterfranken ein kleines Theaterwunder ereignet und es ist aus einer verlässlichen, verdienstvollen Bühne im ländlichen Raum ein quicklebendiges kulturelles Zentrum geworden. Vieles hat Prinzipalin Anne Maar, Enkelin der Gründerin Lena Hutter, am Fränkischen Theater Schloss Maßbach bewirkt. Für die Freunde des Sprechtheaters gehört dazu, dass sie sich mit dem Berliner Frank Alva Buecheler nun regelmäßig einen Spezialisten für das europäische Drama des Naturalismus als Gastregisseur ans Haus holt, der schon zweimal mit Stücken Ibsens und jetzt auch mit Gerhart Hauptmanns frühem Schauspiel „Einsame Menschen“ die psychologischen Problemwelten des ausgehenden 19. Jahrhunderts hautnah ins 21. zu holen vermag. Und Hauptmanns drittes Bühnenwerk macht da von der Textgestalt her ungleich mehr Probleme als Ibsens Ehedramen, weshalb Buecheler auch mit Zustimmung der Hauptmann-Erbin Anja eine Neufassung erarbeitet hat.

Ästhetisch konsequent

Doch nicht nur beim Text ich Buechelers ästhetisch konsequenter mit seiner Vorlage umgegangen als bisher: In teilweise nur Minuten dauernden Sequenzen löst er Hauptmanns Fünf-Akt-Struktur auf, unter-teilt durch kurze, an Phrasen aus spä- tromantischer Musik erinnernde Klavierpassagen von Massbachs Hausmusiker Ingo Pfeiffer. Das wirkt sperrig, illusionszer-störend, stellte die zu Mosaikfragmente vereinzelten Textpassagen schlaglichtartig den Zuschauern zur geistigen Auseinan-dersetzung vor Augen. Mit genauester Choreographie und Personenregie, unterstützt von der zwischen Abstraktheit und Realismus angesiedelten Bühne von Anita Rask Nielsen und einer klugen Licht- und Tongestaltung von Robert Werthmann, machte Buecheler es seinen Zuschauern möglich, die nie vordergründigen, sondern im Atmosphärischen angesiedelten Katas-trophen in diesem Stück zu erfassen, das Beziehungsmosaik aus dem 19. auf einer im 21. Jahrhundert angesiedelten Ebene des Wissens um menschliche Verhaltens- und Fühlweisen zu verstehen. Das setzt natürlich voraus, dass das Ensemble zu solch subtilem und genauem Spiel fähig war. Die sechs Schauspieler zeigten sich dieser Aufgabe gewachsen. In Buechelers Textfassung ist die Bedeutung der Eltern des Privatgelehrten Vockerat, eines in den Konventionen der Bürgerlichkeit und der Religiosität festgelegten Paares zwar etwas zurück-genommen, doch Eike Domroes als aufbrausender Kaufmannspatriarch, der seinen Sohn zur Ordnung ruft, und Tommy Völckers als ständig aufgeregt mit Tischauf- und –abdecken beschäftigte und dabei christliche Moral predigende Mutter waren dennoch eindrucksvolle Vertreter der gesellschaftlichen Zwänge, denen sich ihr Sohn Johannes widersetzen möchte. Christian Skibbe gab Johannes’ Freund, den aufmüpfigen Bürgerschreck und Maler Breo Braun, als einen Vorverweis auf die Generation, die dann ein paar Jahrzehnte später wirklich aufräumen wollte mit dem Bürgertum, auf den ‚jungen Wilden’ Bertolt Brecht, von dem er auch immer mal zitatweise eine kleine Melodie auf den Lippen hatte.

Begrenzte Rebellion

Johannes Vockerat sieht sich ebenfalls als Überwinder der Bourgoisie, doch beschränkt sich seine Rebellion zunächst auf die Ebene der Philosophie, wo er mit Positionen des Darwinismus, Atheismus seine Eltern zwar befremdet, sich aber doch gerne in seinem bürgerlichen Lebenswandel von ihnen finanzieren lässt. Erst als dem sich von allen unverstanden Wähnenden die Philosophiestudentin Anna Mahr, eine flüchtige Bekannte Brauns, ins Haus schneit, glaubt er, im Ausleben der Seelenverwandt-schaft mit ihr, die Susanne Pfeiffer als ebenso warmherzig liebenswürdige wie intellektuell faszinierende Person darstellte, seine kleine persönliche Revolution erleben zu müssen. Steffen Nowak, ein klein wenig zu jugendlich wirkend für die Rolle, machte die Stadien der sich entwickelnden Leidenschaft für Anna in ebenso subtilen kleinen Verhaltensschritten sichtbar wie Susanne Pfeiffer die zögerlichen der Anna Mahr. Einfühlende genaue Beobachtung ließ die Zuschauer zwar sehr wohl Wut und Kritik empfinden angesichts der Egozentrik, Fühl- und Rücksichtslosigkeiten gegenüber der Familie und dem seine Gefühle immer wieder wegrationalisieren wollenden Johannes, doch ließ sie auch seine persönliche Tragik erkennen, die ihn in den Freitod treibt, als Anna ihn doch verlässt.

Tragische Hauptfigur

Zur tragischen Hauptfigur wurde in Buechelers Inszenierung Vockerats Ehefrau, von Sandra Lava mit solcher Eindringlichkeit gespielt, dass so manch ein Zuschauer hinterher meinte, es sei ja befriedigend gewesen, dass sich der rücksichtslose Johannes am Ende endlich umgebracht habe. Weit weg von dem Dummerchen, zu dem die Figur in den meisten der – allerdings wenigen – Inszenierungen des Stückes gemacht wurde, ließ Sandra Lava das Leiden dieser jungen Frau zum Mittelpunkt des Publikums-interesses werden. Käthe Vockerat liebt ihren Johannes abgöttisch, sie hat sich zurückgezogen in die Rolle der Ehefrau und Mutter, sie leidet darunter, dass sie ihm bei seinem geistigen Beschäftigungen nicht folgen kann, dass ein wesentlicher Bereich seiner Persönlichkeit ihr verschlossen bleiben muss. Und sie kämpft selbst zerstörerisch gegen ihre Eifersucht, als Johannes in der ihr auch sympathischen Anna ein gleichwertiges Pendant gefunden hat. Selten hat man im Kurtheater so viel Innenhandlung so greifbar und begreifbar dargestellt bekommen – und das in einem Stück, das schon vor einem Jahrhundert als verstaubt galt. Dass die Massbacher das geschafft haben, lohnte ihnen der begeisterte Applaus, der zum Amüsement von Publikum und Spielern sogar noch andauerte, als der Bühnentechniker sich schon anderem als der Bühnenbeleuchtung zugewandt hatte. Er musste noch mal ran, denn auch beim sechsten Vorhang wollten die Zuschauer die ob ihres Erfolges sichtlich stolze und glückliche Truppe noch einmal bei Licht besehen.

Gerhild Ahnert, Saale-Zeitung, 14. 11.2005

fab
     

1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1 1
1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
11 1 1 1 1
1 1
1 1
1 1 1
1 1
1 1